Mitternacht

1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9... Neun Schläge.

Von fern her hörte man dumpf durch die dichten Nebel den Glockenschlag der Turmuhr. Adrienne blickte auf. Sie war bequem in ihren tiefen Sessel gesunken und hatte gewartet. Ich Gefühl sagte, es würde heute noch etwas passieren. Ein etwas verhalten klingenden Klopfen war an der schweren Eichentür des Herrenhauses zu hören. Die Hausherrin erhob sich gelangweilt, strich ihr rotes Samtkleid glatt und ihr langes pechschwarzes Haar zurück. Ohne Angst öffnete sie in dieser Nacht die Tür. Was sollte sie auch fürchten?...

"Ja?"

"Mylady, verzeiht die nächtliche Störung. Wir wissen, es ist spät, aber wir sahen hier Kerzenschein... Der Weg draussen ist recht unwirtlich und die Nebel tief. - Hättet ihr vielleicht Unterkunft für zwei Durchreisende?"

Adrienne neigte wortlos den Kopf und öffnete die Tür weiter um die beiden Männer mit einer Geste hereinzubitten.

"Ihr seid zu freundlich! Ich fürchte, wir haben uns verirrt..." Der Jüngere der beiden, der auch vorher schon gesprochen hatte, lächelte schief. >freundlich... jaaa, das bin ich... 9 Uhr...<

"Ihr könnt gerne übernachten. Ich bin allein hier, ein wenig Gesellschaft könnte mir gut tun", Adrienne sprach´s und goss etwas Wein in die Chrystallgläser. Ihre Gäste nahmen dankbar den roten Trank entgegen. >Hm! Wisst ihr, was ihr da trinkt? ... Ihr belustigt mich...<

"Ihr wohnt ganz allein hier, es ist sehr abgelegen...?"

"Ja, ich habe gern Ruhe, wisst ihr." >Ha! Wer würde mich im Dorf haben wollen, was denkst Du denn..?<

Der ältere Mann strich sich über seinen Bart und erzählte, dass sie einen Vetter besuchen wollten, der einige Wegstunden entfernt wohnen würde. Man hatte lange nichts gehört und leider habe es in der Gegend auch einige Unfälle gegeben...

"Ach ja? Davon wusste ich nichts... Ich lebe sehr zurückgezogen." >Ich weiss, um Mitternacht...<

Zehn Glockenschläge. >Zwei Stunden noch...<

"Ich zeige Euch die Gästebetten."

"Ihr seid wirklich sehr freundlich, meine Dame!" Fast tat ihr der junge Mann leid. Er war gross, ein Raubvogel-Gesicht. Er wäre ideal. Er würde gut passen...

Die Besucher waren zu Bett gegangen. Adrienne sass wieder in ihrem Sessel, hellwach, ihr Glas in der Hand. Wie vorher, nur ihr Kleid war anders, gebührende Kleidung für ihren Gefährten, ein durchsichtiger Hauch von Seide. Ihr Lachen klang glockenklar durch die dunklen alten Mauern.

>11 Schläge... bald...<

Sie wartete. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Egal, sie würde ihn früh genug erfahren. Der Vetter konnte lange warten. Vielleicht würde sie gnädig sein und den alten Mann laufen lassen, sie könnte eine Nachricht hinterlassen, der junge Mann wäre vorausgegangen. Würde er das glauben? Egal. Bei Sonnenaufgang würde der Ältere sowieso ein verlassenes Herrenhaus vorfinden. Ja, sie würde ihn laufen lassen, als "Geschenk" sozusagen!

>...bald... gehörst Du mir. Mitternacht<

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Adrienne atmete tief durch, sie erhob sich aus ihrem Sessel - schlangengleich, das zweite Mal an diesem Abend.

>Wärst du gekommen, wüsstest du, was ich tun werde??<

Ach, alle waren gekommen, doch keiner war es bisher wert gewesen bleiben zu dürfen. Sie stieg die Wendeltreppe empor, barfuss, hungrig... >Ich kann deine warme Haut riechen...<

Leise öffnete sie die Tür zu dem völlig verdunkelten Schlafraum. Sie sah ihn mit ihren eulengleichen scharfen Augen in der Dunkelheit liegen und lachte in sich hinein. >Wie ruhig du atmest... so lange gewartet auf dich...<

Das Bett knarrte leise, als sie sich setzte und er erwachte und erschrak. >Zu spät...< Giftgrüne Augen bohrten sich in seinen verwirrten Blick. Sie streichelte seine weiche Haut. >So warm... noch warm< Er kam nicht mehr dazu, etwas zu fragen, sich zu wundern. Blitzschnell wie eine schwarze Schlange biss sie zu, rotes Blut rann seinen Hals herunter.

Sie stand auf. >So kalt... Keine Angst mein Liebling, es ist nicht vorbei, es fängt erst an.<

Sie sah nachdenklich auf ihn hinab. Wie war wohl sein Name...?

>Keiner vor dir hatte bisher diese Glück... morgen... bist du bei mir... hab keine Angst...<

Adrienne streichelte sein regloses Gesicht. >Morgen bist du wie ich, morgen regieren wir die Welt.<

Sie legte sich nieder, kuschelte ihr schwarzes Haar an seine Brust. >In ein paar Stunden erwachst du.< Sie schloss die Augen und lächelte.

>Jetzt bist du endlich da. Mein Gefährte, der Vampir...<

...the end...(?)

Anita Spielvogel

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