Weihnachtswunder

Weihnachten, das ist natürlich die heißersehnte Zeit der Geschenke. Aber Weihnachten ist noch immer die Zeit der Geschichten, eine Zeit der Phantasie und die Zeit der Wunder. Von einem solchen Wunder wollen wir dieses Jahr in unserer Weihnachtsgeschichte berichten.

Es begab sich vor ungefähr sechshundert Jahren. Es war der Weihnachtsmorgen, als eine zerlumpte und gebeugte Gestalt an die Stadttore einer damals schon alten und mächtigen Stadt gelangte.

Der gebeugte Mann war reich gewesen - bis zu jenem Tag, als marodierende Landsknechte sein Haus überfallen hatten. Sie brandschatzten und erschlugen im Blutrausch seine ganze Familie. Er überlebte als Einziger - sie hielten ihn wohl schon für tot.

Drei Tage hatte er in dumpfer Apathie neben den Trümmern, die einst seine ganze Welt waren, gesessen. Drei Tage in denen er sich jede Minute wünschte, von seinem ungnädigen Schicksal erlöst zu werden.

Aber dann am vierten Tag siegte der Lebenswille - es mußte doch einen Sinn haben, daß er noch lebte.

Die strengen Stadtwachen preßten ihm seine letzte gerettete Kupfermünze für die Passage ab. Aber was für eine Stadt, was für ein Reichtum. Türme und Mauern, die bis in den Himmel ragten. Und was für Kontore. Die Händler boten Waren aus der ganzen Welt feil. Da blinkten maurische Silberteller, da glimmerten Bernsteingeschmeide neben kunstvollen griechischen Kupferkesseln und alles war erfüllt vom süßen Duft von Punsch und exotischen Gewürzen.

Aber vor allem, in der Stadt würde man ihn kennen und ihm helfen - er war schließlich weitgereist und berühmt.

Und so streifte er in der Stadt herum, aber zu seinem Entsetzen erkannte ihn niemand und wie hätte er sich auch verständigen können, das grauenvolle Schicksal hatte ihn stumm gemacht. - Ihn, den größten Barden seiner Zeit.

Er hatte seine Heldenlieder vor Grafen und Fürsten gesungen. Wenn er lachte, dann lachten Könige und wenn er die Tränen des Odysseus über die Greuel von Troja besang - dann weinten selbst Folterknechte. Aber nun war er stumm - unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.

So wurde es langsam Abend. Für ein Nachtlager besaß er keine Münze mehr und so suchte er wenigstens einen windgeschützten Hauseingang. Plötzlich drang ein kaum wahrnehmbares Wimmern an seine Ohren. Er sah in einem alten Korb ein kleines, nur wenige Wochen altes Kind liegen. Die fadenscheinigen Lumpen, in das es gewickelt, war zeugten von der Armut der Eltern.

Sie hofften wohl im Gottvertrauen darauf, daß eine gnädige Seele das Kind zu sich nehmen und es so retten werde. Aber kein Mensch war mehr auf den Straßen zu sehen - das Schicksal, das hier vor ihm in einem Korb lag, rührte ihn an und mit Tränen in den Augen nahm er das Kind aus dem Korb und wärmte es an seiner Brust. Plötzlich wurde ihm klar, warum er noch am Leben war, er hatte noch eine Aufgabe.

Nach einer Weile zog er den zerissenen Umhang von seinen Schultern und wickelte das Baby darin ein. Verzweifelt suchte er nach Rettung für das Kind. Aber wo immer er auch klopfte, er wurde verjagt - wer öffnet auch an Weihnachten einem heruntergekommenen Stummen sein Haus?

Krächzend versuchte er Laute zu bilden - nur um das Kind etwas zu beruhigen. Nach und nach wurde das Krächzen immer deutlicher, es wurde ein Summen und schließlich immer artikulierter.

Er konnte wieder sprechen. Was für ein Wunder. Er wußte, er muß sich wachhalten. Wenn er bei dieser Kälte einschlief, wäre das wohl das Ende für beide. Und so begann er seine schönsten Geschichten zu erzählen. Da gab es kühne Helden, wunderschöne Damen, blühende Wiesen, gütige Zauberer und freche Kobolde.

Er sprach in geschliffenen Hexametern die von Strophe zu Strophe schöner und fesselnder wurden. Und als er sich schließlich ermattet von einem langen Epos an eine Hauswand lehnte und die Augen von dem selig schlafenden Kind hob, sah er, daß er längst nicht mehr allein auf dem Platz war.

Dutzende heimliche Zuhörer hatten sich trotz beißender Kälte, angelockt von den Gesängen des Barden auf dem Platz eingefunden, um seinen Geschichten zu lauschen. Und als er hochschaute, sah er in jedem Fenster mindestens zwei Köpfe herauslugen.

Ein Jubeln und Hurrarufen setzte an - das fast in dem Klirren und Klimpern der Münzen, die im zugeworfen wurden unterging. Jeder wollte ihn als seinen Gast einladen. Respektvoll teilte sich die Menge als der Bürgermeister auf den Barden und sein kleines Bündel zuschritt.

Er streifte seinen warmen Pelzmantel ab und hängte ihn vorsichtig dem zitternden Sänger um. Er ernannte ihn unter dem Jubel der Zuhörer zum Stadtbarden, mit der Bitte, jedes Jahr am Weihnachtsabend eine Geschichte vorzutragen.

Mit feuchten Augen und bebender Stimme sprach der Barde: "Am Anfang war das Wort ... und uns allen ein schönes Weihnachtfest."

Dem kann sich der Erzähler nur anschließen

Yven Dienst

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